Mirror-Universe-Marxismus
Wie die politische Tradition der arbeitenden Klasse in Sachen Reformen, Gewerkschaften und Parlamenten auf den Kopf gestellt wird.
In den Debatten unseres Verbands und auch in der gesellschaftlichen Linken besetzt der Marxismus eine eigenartige Position. Bekenntnisse zu dieser Tradition sind in Worten und Symbolik nicht schwer zu finden, aber was damit gemeint ist, scheint oft nur eine radikale Ablehnung des Kapitalismus zu sein. In der Strategiedebatte auf dem Bundeskongress war zum Beispiel zu hören, dass ein Fokus auf Wohnen und Sozialpolitik eine Rechtsentwicklung und eine Hinwendung zum Reformismus bedeuteten. Die Vorstellung, dass der Kampf für Reformen im Kapitalismus eine bloße Ablenkung von unseren eigentlichen, revolutionären Zielen sei, ist nicht neu in der sozialistischen Bewegung, aber mit dem Marxismus hat sie absolut nichts zu tun.
Reform und Revolution
Für Marx war der Kampf um Arbeitszeitverkürzung, die in England in Form des Ten Hours Act durchgesetzt wurde, der wichtigste politische Kampf Mitte des 19. Jahrhunderts. In der Inauguraladresse der Internationalen Arbeiterassoziation von 1864 spricht Marx von einem dreißigjährigen Kampf, aus dem »große physische, moralische und geistige Vorteile für die Fabrikarbeiter erwuchsen«. Die gesetzliche Beschränkung der Arbeitszeit war für ihn »der Sieg eines Prinzips«, denn »zum ersten Mal erlag die politische Ökonomie der Mittelklasse in hellem Tageslicht vor der politischen Ökonomie der Arbeiterklasse«. Es ist also etwas verwunderlich, wenn selbsterklärte Marxist:innen behaupten, wer sozialpolitische Reformen fordert, wolle entweder in die Regierung oder mache leere Wahlversprechen. Der Marxismus zeichnet sich in Wirklichkeit gerade dadurch aus, dass er eine Verbindung zwischen dem alltäglichen Kampf arbeitender Menschen für bessere Lebensbedingungen und dem Ziel des Sozialismus zieht.
Sogar der oft zitierte Ausspruch von Marx »Alles was ich weiß, ist, dass ich kein Marxist bin« stand im Kontext der Debatte um die Rolle von Reformen für die Erreichung des Sozialismus. Eine Fraktion innerhalb der 1879 neu gegründeten französischen Arbeiterpartei um den Sozialisten Jules Guesde, die als Marxist:innen auftrat, war nämlich der Auffassung, dass Minimalforderungen, die im Hier und Jetzt die Lage der Arbeiter:innenklasse konkret verbessern würden, unerreichbar seien. Das Aufstellen von Minimalforderungen war für diese französischen »Marxist:innen« eine rein taktische Masche – eine Art Köder –, mit der man die Arbeiter:innen zum Kampf locken, von der Unerreichbarkeit von Reformen im Rahmen des Kapitalismus überzeugen könne, um sofort zu einer Revolution übergehen zu können. Der eigenständige Stellenwert des Kampfes um konkrete Verbesserungen und das Mobilisierungspotenzial sowie die systemsprengende Dynamik, die solche Kämpfe auslösen können, wurden von Guesdes nicht erkannt. Marx, der die Relevanz dieser Kämpfe hingegen anerkannte, wollte mit dieser Position der französischen »Marxist:innen« zur Bedeutung von Reformen nicht in Verbindung gebracht werden, weshalb er das Etikett »Marxist« ablehnte, als er davon erfuhr.
Besonders umfassend wurde das Verhältnis von Reform und Revolution von Rosa Luxemburg ausgearbeitet. Reform und Revolution sind hier verschiedene historische Phasen, hängen aber unmittelbar zusammen. Luxemburg geht davon aus, dass eine Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat nicht aus dem Nichts passieren kann, sondern erst nach bestimmten Vorbereitungen: Nötig sind die Entwicklung von Klassenbewusstsein und der Aufbau von Organisation in Reformkämpfen, die neben diesem vorbereitenden Faktor auch zu konkreten Verbesserungen führen und so die Mehrheit der Bevölkerung für den Sozialismus gewinnen sollen. Diese Verknüpfung zwischen dem revolutionären Ziel und den alltäglichen proletarischen Kämpfen um Verbesserungen versteht Luxemburg als zentrale Erkenntnis des Marxismus. Die marxistische Gesellschaftstheorie ermöglicht es, reale Widersprüche innerhalb des Bestehenden zu erkennen und an ihnen anzusetzen, anstatt dem Sein nur das Sollen entgegenzustellen.
Auf marxistischer Grundlage lässt sich eine Strategie entwickeln, die sowohl erreichbare Ziele verfolgt und damit in der Lage ist, im Hier und Jetzt Politik zu machen, als auch »durch alle ihre Teilbestrebungen in ihrer Gesamtheit über den Rahmen der bestehenden Ordnung, in der sie arbeitet« hinauszugehen.
Praktisch heißt das, alltägliche Kämpfe immer aus Perspektive des sozialistischen Ziels zu beleuchten. Kleine Fortschritte damit zu erkaufen, sich den Weg zu großen Fortschritten zu verbauen – beispielsweise, indem Linke durch Beteiligung an bürgerlichen Regierungen Glaubwürdigkeit verlieren – sei deshalb der falsche Weg. Auch Niederlagen, die das Klassenbewusstsein und das Bewusstsein für die Grenzen des Kapitalismus in der breiten Bevölkerung schärfen, können Erfolge sein. Da zentral ist, inwiefern der konkrete Konflikt für Stärkung der eigenen Organisationen, Entwicklung von Klassenbewusstsein und weitere Politisierung genutzt wird, stellt sich in Reformkämpfen nie nur die Frage des Was, sondern immer auch die Frage des Wie. Im Kampf geht es also nie nur um das Ziel, sondern auch um die Verbesserung der Bedingungen für zukünftige Kämpfe. Frigga Haug bringt diese Logik in einem Wortbild auf den Punkt: »Die reformerischen Handlungen werden wie Eisenspäne im Magnetfeld des sozialistischen Fernziels ausgerichtet und darin orientiert.«
Gewerkschaften
In seiner einflussreichen Vortragsreihe »Marxism and the Trade Unions« aus dem Jahr 1970 betont Hal Draper, dass die frühen Sozialist:innen vor Marx’ Zeit mehr oder weniger alle Gegner:innen der Gewerkschaftsbewegung waren. Die Gewerkschaften sah man als bloße Reformbewegung, die mit der politischen Bewegung für den Sozialismus nichts zu tun hat. Für Marxist:innen sind Arbeitskämpfe und gewerkschaftliche Organisierung dagegen ein Mittel zum Machtaufbau der arbeitenden Klasse, um den Kapitalismus letztendlich stürzen zu können. Diese strategische Orientierung auf die arbeitende Klasse und ihre Organisationen, ist das Kernelement marxistischer Politik.
In der Linksjugend [‘solid] hört man ab und zu, dass die bestehenden Gewerkschaften reformistisch seien und wir deshalb nicht in ihnen arbeiten sollten. Auf dem letzten Bundeskongress hat sogar jemand gefordert, dass man stattdessen neue, »revolutionäre« Gewerkschaften gründen sollte.
Lenin, auf den sich die Vertreter:innen dieser Sichtweise oft positiv beziehen, hatte für diese Position nichts übrig. In einer seiner polemischsten Schriften »Der ›Linke Radikalismus‹, die Kinderkrankheit im Kommunismus« widmet Lenin ein ganzes Kapitel der Frage, ob Revolutionär:innen in konterrevolutionären Gewerkschaften arbeiten sollen. Er sagt dort paraphrasiert, man kämpft mit der Armee, die man hat, nicht mit der, die man gern hätte. Aus dem Fakt, dass die Spitzen der Gewerkschaften reaktionär und konterrevolutionär sind, zu schließen, dass man aus ihnen austreten und neue gründen müsse, schreibt Lenin, »ist eine so unverzeihliche Dummheit, daß sie dem größten Dienst gleichkommt, den Kommunisten der Bourgeoisie erweisen können.« Er steht dieser Position mit so viel Geringschätzigkeit gegenüber, dass der ganze Text voller wüster Beschimpfungen ist.
Parlamente
Der Frage, ob sich sozialistische Parteien für Wahlen für bürgerliche Parlamente aufstellen sollten, widmet Lenin sich im nächsten Kapitel. Als Antwort auf die deutschen Linkskommunist:innen, die sich gegen eine »Rückkehr zum Parlamentarismus« stellen, schreibt er: »Das ist bis zur Lächerlichkeit anmaßend gesagt und offenkundig falsch. ›Rückkehr‹ zum Parlamentarismus! Gibt es in Deutschland gar schon eine Sowjetrepublik? Doch wohl nicht! Wie kann man also von einer ›Rückkehr‹ reden? Ist das nicht eine leere Phrase?« Weiter heißt es: »Wie kann man denn davon reden, daß der ›Parlamentarismus politisch erledigt‹ sei, wenn ›Millionen‹ und ›Legionen‹ Proletarier nicht nur für den Parlamentarismus schlechthin eintreten, sondern sogar direkt ›gegenrevolutionär‹ sind!? [...] Es ist klar, daß die ›Linken‹ in Deutschland ihren eigenen Wunsch, ihre eigene ideologisch-politische Stellung für die objektive Wirklichkeit halten. Das ist der gefährlichste Fehler, den Revolutionäre machen können.«
Lenin schreibt diesen Text im Jahr 1920, zu einem Zeitpunkt, wo die russischen Kommunist:innen bereits vollständig mit der revolutionären Sozialdemokratie der Zweiten Internationale gebrochen und das politische Modell der Oktoberrevolution für überall anwendbar erklärt hatten. Und dennoch kommt er zu dem Schluss, dass die Beteiligung an bürgerlichen Parlamenten hilfreich für das revolutionäre Proletariat sei. [1]
Marx geht sogar einen Schritt weiter als Lenin in Richtung des gefürchteten Parlamentarismus. In der sogenannten »La Liberté«-Rede von 1872 sagt Marx:
»Aber wir haben nicht behauptet, daß die Wege, um zu diesem Ziel [Sozialismus] zu gelangen, überall dieselben seien. Wir wissen, daß man die Institutionen, die Sitten und die Traditionen der verschiedenen Länder berücksichtigen muß, und wir leugnen nicht, daß es Länder gibt, wie Amerika, England, und wenn mir eure Institutionen besser bekannt wären, würde ich vielleicht noch Holland hinzufügen, wo die Arbeiter auf friedlichem Wege zu ihrem Ziel gelangen können. Wenn das wahr ist, müssen wir auch anerkennen, daß in den meisten Ländern des Kontinents der Hebel unserer Revolutionen die Gewalt sein muß; die Gewalt ist es, an die man eines Tages appellieren muß, um die Herrschaft der Arbeit zu errichten.«
Marx sagt das zu einem Zeitpunkt, wo weder in den USA, noch in England, noch in den Niederlanden das allgemeine Wahlrecht durchgesetzt war. Die Voraussetzungen für so eine Strategie sind heute sicherlich besser als damals. Wichtig ist, dass Marx die Beteiligung an Wahlen und die Erlangung von Parlamentssitzen aber nicht als Selbstzweck ansah, sondern als »Mittel der Organisation und des Kampfes« des Proletariats, wie Marx in der Einleitung zum Programm der französischen Arbeiterpartei hervorhebt. Auch vertrat er keine naive Sichtweise, die die politische Konfrontation der Klassen in den Hintergrund rückt, sondern sah – auch in den demokratischeren Ländern – die Gefahr einer gewaltsamen bürgerlichen Konterrevolution gegen eine sozialistische Parlamentsmehrheit. Trotz dieser Einschränkungen gilt, dass eine Position, die Wahlen und Parlamente gänzlich ablehnt, in der Tradition des Marxismus keine Grundlage hat.
Nun ist der Marxismus keine Religion und es steht uns allen frei, mit den Klassikern zu brechen, wo wir ihre Argumente nicht überzeugend finden. Aber wenn man sich ihrer bedient, lohnt es sich, sie auch zu lesen. Dann klingt man auf dem nächsten Bundeskongress vielleicht auch mehr nach Marx und weniger nach Blanqui!
Zum Weiterlesen:
Karl Marx (1864): Inauguraladresse der Internationalen Arbeiter-Assoziation. Abrufbar unter: http://www.mlwerke.de/me/me16/me16_005.htm
Karl Marx (1872): »La Liberté«-Rede. Abrufbar unter:http://www.mlwerke.de/me/me18/me18_159.htm
Lenin (1920): Der »Linke Radikalismus«, die Kinderkrankheit im Kommunismus. Abrufbar unter: https://www.marxists.org/deutsch/archiv/lenin/1920/linksrad/index.html
Hal Draper (1970): Marxism and the Trade Unions. Abrufbar unter: https://www.marxists.org/archive/draper/1970/tus/index.htm
Eric Blanc (2022): Was wir wirklich aus der Russischen Revolution lernen können. Abrufbar unter: https://jacobin.de/artikel/was-wir-wirklich-aus-der-russischen-revolution-lernen-konnen-leninismus-lenin-kautsky-trotzki-spd-sozialdemokratie
Seth Ackerman (2023): Karl Marx Knew That the Struggle for Reforms Was Part of the Struggle for Socialism. Abrufbar unter: https://jacobin.com/2023/04/marx-knew-that-the-struggle-for-reforms-was-part-of-the-struggle-for-socialism
Daniel Kehl (2018): »Alles, was ich weiß, ist, dass ich kein Marxist bin«?! Abrufbar unter: https://solidaritaet.info/2018/07/alles-was-ich-weiss-ist-dass-ich-kein-marxist-bin/
Rosa Luxemburg (1906): Was wollen wir? Kommentar zum Programm der Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauens. Abrufbar unter: https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-2/seite/37
Rosa Luxemburg (1903): Karl Marx. Abrufbar unter: https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-1-2/seite/369
Frigga Haug (2007): Rosa Luxemburg und die Kunst der Politik. Abrufbar unter: https://argument.de/produkt/rosa-luxemburg-und-die-kunst-der-politik/
[1] Viele Sozialist:innen sind der Ansicht, dass unsere leninistisch eingestellten Genoss:innen uns bis heute eine Erklärung schuldig bleiben, warum nur Arbeiter:innen- und Soldat:innenräte den Sozialismus durchsetzen können, nicht aber ein Parlament unter sozialistischer Kontrolle. Dass das historisch fragwürdig ist, argumentiert beispielsweise Eric Blanc in seinem Buch »Revolutionary Social Democracy«. Eine Kurzfassung seines Arguments auf Deutsch kann man in einem Text von Blanc mit dem Titel »Was wir wirklich aus der Russischen Revolution lernen können« lesen, der bei »Jacobin« erschienen ist.